Auf der rechten Oderseite erstreckt sich, in unmittelbarer Nachbarschaft zu zwei sie überquerenden Brücken, ein in seiner Art einzigartiger Stadtteil von Kostrzyn an der Oder – die Altstadt. Sie wird sowohl von einer modernen Bebauung entlang der Straße über die Grenzbrücke, als auch von gewaltigen Festungsmauern, die einst Küstrin umgaben, vor den Blicken der Reisenden geschützt. Über mehrere Jahrhunderte schlug hier das Herz von Küstrin – in den letzten Tagen des März 1945 wurde sie in Schutt und Asche gelegt.
Nahezu ein halbes Jahrhundert lang, verfielen die Trümmer der Küstriner Altstadt in einen immer unübersichtlichen Schuttberg, der immer dichter von einer wild wuchernden Pflanzenwelt bedeckt wurde. In den letzten Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurden die Straßen und Plätze, sowie einige Stadtviertel der einstigen Bebauung wieder freigelegt. Auf diese Weise konnte der Grundriss der zerstörten Altstadt wieder sichtbar gemacht werden. Ein Spaziergang durch diesen ungewöhnlichen Park, zwischen den Überresten der Bebauung, deren Mauern von den Spuren der Einschüsse und Splitter die sie trafen gezeichnet sind und nun nur noch 1,5m über die Erdoberfläche ragen, ist ein besonderes Erlebnis. An einigen Stellen kann man noch immer erkennen, welche Funktion die Gebäude erfüllten. Von der einstigen dichten Bebauung der Stadt sind nur noch die Keller und Außenmauern, sowie mit Moos bewachsener Schutt und Ruinen, wie z. B. die alte Pfarrkirche erhalten. Um jedoch das zu sehen, was es nicht mehr gibt, empfiehlt sich ein Besuch der Bastion Philipp in deren Kasematten die Geschichte Küstrins ausgestellt wird. Jedoch pulsiert das Leben heutzutage wo anders – hinter der Warthe, wo sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Neustadt, der bevölkerungsreichste Bezirk Küstrins, entwickelte,. Obwohl auch sie 1945 zu über 90% zerstört worden ist, entstand an ihrer Stelle eine polnische Stadt, die sich stets verändert und wächst.
Die topographische Beschaffenheit des Gebietes um Kostrzyn ist ein Erbe aus der letzen Eiszeit. Die Stadt liegt am Rande einer gewaltigen Vertiefung (Ebene), entlang der einst ein gigantischer Wasserstrom des schmelzenden Gletschers Richtung Westen abfloss: Das Thorn – Eberswalder Urstromtal. Von Süden mündet ein etwas kleineres Lebueser Odertal in ihm. Westlich der Stadt erstreckt sich das Oderbruch, dessen anderes Ufer 17 km von Kostrzyn entfernt ist. Die heutige Stadt liegt auf der Seite einer Hochebene, die sanft in Richtung der Urstromtales abfällt und schon zu vorgeschichtlichen Zeiten den Menschen einen guten Zugang nach Pommern gab. Die ältesten Spuren menschlicher Aktivitäten (10.000 v. Chr.) sind genau mit diesem Gebiet verbunden. Einen Weg, der das Urstromtal durchschnitt, kontrollierte im frühen Mittelalter höchstwahrscheinlich eine an seinem Ausgang platzierte Wallburg, deren Spuren man auf Stadtplänen aus dem 18. Jahrhundert feststellen kann.
Die Altstadt liegt auf einer der höher gelegenen „Inseln”, die sich im Urstromtal aus Flusssedimenten gebildet haben. In der vorgeschichtlichen Zeit diente diese Stelle den Menschen als Beststattungsort. Er wurde im 1000 n. Chr. von Slawen besiedelt und später gründeten deutsche Siedler auf ihm eine Stadt. Die erste urkundliche Erwähnung stammte von 1232. Neben dieser bestand aber nach wie vor eine von Fischern und Hirten bewohnte slawische Siedlung - Kietz. Einer der größten Vorteile dieser Lage war der bequeme Zugang zum Fluss, sowie der Schutz, den ihm die Natur bot. Die ursprüngliche Umgebung glich dem heutigen Nationalpark Warthemündung. Im Mittelalter entstand das charakteristische Kommunikationsverbindung mit einem Weg, der das Urstromtal durchschnitt und über viele kleine Brücken und Dämme führte. Vielleicht schon im 13. Jahrhundert, mit Sicherheit jedoch im 14. Jahrhundert entstand neben der Überführung an der Oder ein nicht allzu großes festes Haus, das Mitte des 14. Jahrhunderts vom Kreuzritterorden ausgebaut wurde. Spätestens ab dem 15. Jahrhundert verband eine feste Brücke die beiden Oderufer. Das mittelalterliche Küstrin war von nicht von all zu großer Bedeutung. Trotz seiner günstigen strategischen Lage am Zusammenfluss zweier großer Ströme, wuchs sie nicht zu einem Handelsstadt heran, denn ihre Fläche war ziemlich klein und sie müsste mit anderen günstiger gelegenen Städten flussaufwärts, wie Frankfurt / Oder und Gorzów (Landsberg), konkurieren.
Seine größte Bedeutung erlangte Küstrin in der Zeit vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Der Rang der Stadt wuchs ab 1535, als in Folge der Teilung der Brandenburgischen Lande Kraft des Testaments von Joachim I., der jüngere Bruder seines Nachfolgers, Markgraf Johann, ein selbständiges Fürstentum erhielt, Küstrin zu seiner Residenz wählte und aus ihm eine mächtige Festung machte. Mitbestimmend war dabei sicherlich, dass der Ort leicht zu verteidigen war und die Flüsse kontrollierte. Markgraf Johann bemühte sich sein gesamtes Leben um das Recht, Zölle auf der Oder einzuziehen, ein Ziel dass er schließlich auch erreichen konnte.
Mit dem Status einer Herrscherresidenz, später Provinzhauptstadt, entwickelte sich Küstrin sehr schnell. Da der Platz innerhalb Festung sehr begrenzt war und sie zudem von natürlichen Barrieren umgeben war, entwickelten sich jenseits der beiden Flüsse Vorstädte. Sie lagen an zwei Dämmen, einem langen und einem kurzen, welche die Festung mit dem „Festland“ verbanden, deshalb nannte man sie „Lange“ und „Kurze Vorstadt“. Um die Jahrhundertwende vom 16. zum 17. Jahrhundert könnte Küstrin fast 2000 Einwohner gehabt haben. Nach dem Tode Johanns wurden seine Länder wieder dem Reich Brandenburg angeschlossen. Jedoch bildeten sie eine getrennte Provinz mit der Hauptstadt in Küstrin bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts. Die Stadt überstand den Dreißigjährigen Krieg relativ unbeschadet und entwickelte sich nach dem Ende des Krieges fortwährend weiter. Auch die verhängnisvolle Feuersbrunst von 1758 konnte sie nicht brechen. Schon kurze Zeit später wurde sie wieder aufgebaut und bereits Ende 18. Jahrhunderts beherbergte sie etwa 5.000 Einwohner.
Im 18. Jahrhundert wurde die Trockenlegung und die Bewirtschaftung der Sumpfgebiete um Küstrin beschleunigt fortgesetzt. Ende des Jahrhunderts wurde die Mündung der Warthe verlegt, indem man einen Kanal anlegte. Im 19. Jahrhundert ergänzte man das Dammsystem und regulierte auf diese Weise die Flussläufe. Mit der fortschreitenden Regulierung und dem Ausbau der Wasserwege, die noch im 17. Jahrhundert begann, indem man die Zuflüsse der Oder und Warthe mit Kanälen verband und sie so vernetzte, sowie der Vollendung des Bromberger Kanals - einer Verbindung zur Weichsel, wuchs auch die Bedeutung Küstrins als potentieller Knotenpunkt von Wasserwegen. Es brauchte aber noch ein weiteres Jahrhundert bis sich die Stadt, die sich schrittweise von der sie, wie ein Korsett einschnürenden Festung befreite, davon Nutzen tragen konnte.
1806 begann die Französische Besatzung, die in einer starken Entvölkerung und Zerstörung Küstrins und dem Verlust seines Status als Provinzhauptstadt endete. Gegen Ende der Besatzungszeit, während der Blockade der napoleonischen Garnison (1813-1814), wurden die Vorstädte zerstört. Nachdem das preußische Militär die Festung übernommen hatte, strebte es die Sicherung ihres offenen Vorfeldes an und erzwang den Neubau der Langen Vorstadt und des Kietzes an einer neuen Stelle, die deutlich weiter von der Altstadt entfernt war. In Folge dessen verloren sie an Bedeutung. Küstrin fiel in den Rang eines Provinz-Städtchens.
Jedoch zog die Festung immer neue Verkehrsverbindungen wie ein Magnet an: Chausseen (auf der Karte blau markiert) und Eisenbahnlinien (die gelbe gestrichelte Linie zeigt mittlerweile aufgelöste Wege). Mit ihnen erhielt die Stadt auch eine dauerhafte Verbindung zum südlichen Teil des Urstromtales und gewann damit nicht nur an militärischer, aber auch an wirtschaftlicher Bedeutung. Um die Kreuzung der Eisenbahnen in der Kurzen Vorstadt entstand im Laufe der Zeit die industriell geprägte Neustadt. Das heutige Kostrzyn ist vor allem ihr Erbe. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wohnte und arbeitete hier der Großteil der bereits 15.000 Einwohner Küstrins. Die in den Festungsmauern eingeschlossene Altstadt hingegen begann langsam zu verfallen. Indem man Teile der Befestigungsanlage schliff, erhielt dieser Teil der Stadt neue Möglichkeiten. Dies schien ein Zusammenwachsen der auf einem weitläufigen Gebiet verstreuten Stadt zu versprechen, die damals schon beinahe 24.000 Einwohner zählte. Eine vollständige Ausschöpfung der neuen Möglichkeiten jedoch blieb verwehrt, stattdessen wurde die Stadt 1945 von der Erdoberfläche hinweggefegt.
Nach dem Ende der Kämpfe 1945 lagen über 90% der Küstriner Bebauung in Trümmern. Über der Stadt lag ein Gestank der Verwesung. Die Einwohner Küstrins, die zurück kamen, wurden bald zum Verlassen der Stadt gezwungen. In den dort gelegenen Bezirk Küstrins, Kietz, kehrte nach und nach das Leben zurück, ihre Einwohnerzahl hingegen schwankte seit dem immer um die 1000. Schon kurze Zeit später trennte ein bis 1991 auf der Oderinsel bestehender Stützpunkt der Sowjetischen Armee Kietz vom Rest der Stadt. Das östliche Ufer nahmen die entvölkerte Ruinen der Altstadt ein. Die Oderbrücken wurden nur provisorisch rekonstruiert, indem man Teile anderer zerstörter Überführungen nutzte. Die Eisenbrücke wurde ab und zu genutzt, die Straßenbrücke bedeckte hingegen Gras. Das neue Leben begann in der Altstadt erst 1992, als man in Kostrzyn den Grenzübergang eröffnete.
In der nun polnischen Neustadt lebten am Anfang höchstens einige hundert Menschen. Sie sind in der Regel per Dienstbefehl oder Anordnung hier hergeschickt worden um die Eisenbahn- und Nachrichteneinrichtungen zu bedienen. Es handelte sich hierbei meist um Eisenbahner, Postbeamte, Zollbeamte und Grenzschutzsoldaten. Der größte Teil bemühte sich die Ruinen so schnell wie möglich wieder zu verlassen, denn überall lauerten Blindgänger und es kam oft zu tödlichen Unfällen. Trotzdem schickte man weitere Leute hier her. Das Gebiet der Neustadt wurde systematisch enttrümmert und Schritt für Schritt wurden Wasserleitungen und Beleuchtung wieder in Stand gesetzt. Es funktionierte auch der renovierte Bahnhof, um den noch einige Teile der alten städtischen Bebauung erhalten waren. Kostrzyn war und blieb ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt. 1946 war die Bahn war der größte Arbeitgeber und beschäftigte 700 Mitarbeiter, die jedoch zum größten Teil außerhalb von Kostrzyn wohnten. Die Bahn gab der Stadt einen Neuanfang.
Kostrzyn war zunächst nur dem Namen nach eine „Stadt”. Dass es zu einer richtigen Stadt wurde, verdankt es vor Allem der Zellstofffabrik. Kostrzyn musste praktisch von Grund auf neu aufgebaut werden, um den Arbeitern Wohn- und Dienstleistungsraum zu gewährleisten. Von der 1935 in Betrieb genommenen Anlage war 1945 nur noch ein völlig zerstörtes und der Einrichtungen komplett beraubtes Skelett des Baus übrig. 1949 begann man die Trümmer auf dem Gelände abzutragen. Jedoch musste man auf die Entscheidung einer Inbetriebnahme noch einige Jahre warten und das Schicksal der Stadt lag in der Schwebe. 1958 begann die „Kostrzyner Zellstofffabrik“ ihre Produktion. Sie beschäftigte nahezu 1000 Personen. Kostrzyn hatte zu dem Zeitpunkt 4856 Einwohner, von denen gerade mal 2% ununterbrochen seit 1946 dort wohnten. 29,7 % stammen aus den Ostgebieten Polens, 26,4% aus Großpolen und viele kamen auch aus Kujawien und Masowien. 1968 begann die Anlage, mittlerweile in „Kostrzyner Fabrik für Zellstoff und Papier“ (KFCiP) umbenannt, Papier herzustellen. 1971 wurde die Fabrik zu einem Betrieb und hieß fortan „Kostrzyner Papierbetriebe“. Sie beschäftigte nun um die 2000 Arbeiter. Neben der Fabrik und der Eisenbahn gab es zu der Zeit schon einige kleinere Industriebetriebe und auch die Einwohnerzahl war mittlerweile bereits auf die 10.000 angewachsen. Heute hat Kostrzyn um die 18.000 Einwohner und entwickelt sich stets weiter.
Über Jahrhunderte bedeutete die strategische Lage Küstrins vor allem seinen Fluch. Als die Europäer zu den Waffen griffen, um sich im Namen Gottes, der Ehre, der Staatsräson, des Vaterlandes, der Kultur, der Rasse oder anders genannter Interessen zu töten, fiel die Stadt mehrmals diesen gewaltsamen Entscheidungen zu Opfer. In der Zeit des Kalten Krieges war Küstrin - als ein erstrangiger Verkehrsknotenpunkt und als Konzentration der Übergänge durch natürliche Barrieren - ein potenzielles Ziel eines taktischen Atomschlages der NATO. Als solches war es von vorn herein praktisch abgeschrieben. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs konnte es jedoch wieder aus seiner Lage Vorteile ziehen. Im geeinigten Europa erlebt es einen beispiellosen Aufschwung - zum ersten Mal hängt über der Stadt kein Schatten eines möglichen Untergangs.
Es gibt nur wenige Städte, deren Bezirke so oft ihren Standort, ihre Funktion und Gestalt gewechselt haben und noch weniger solche, deren Antlitz sich so radikal verändert hat. In der Neustadt haben von den einst 8.000 Gebäuden vielleicht gerade mal 300 den Krieg überstanden. Vielerorts wurde sogar auch der Straßenverlauf verändert. Von der Altstadt ist nur noch ein einziges Gebäude erhalten.
Es handelt sich aber nicht nur um materielle Werte: das alte Küstrin pflegte seinen eigenen historischen Mythos. Die lokalen Historiker hoben hervor, ihre Stadt hätte den Charakter der Schöpfer der Macht Brandenburgs und Preußens geprägt. In der Tat, während des Dreißigjährigen Krieges bot die Festung dem jungen Friedrich Wilhelm, dem späteren Großen Kurfürsten, Schutz. Sein Denkmal stand ab 1903 auf dem Innenhof des Schlosses. Als sich der junge Friedrich II. von der strengen Vorherrschaft seines autoritären Vaters zu befreien versuchte und einen Fluchtversuch wagte, inhaftierte man ihn in Küstrin. Seinen Freund und Mitverschwörer, den jungen Gardeoffizier Hans Herrmann von Katte, verurteilte man zum Tode und enthauptete ihn in Küstrin, vor den Augen des jungen Kornprinzen. Die grausame Lektion zeigte sich als wirkungsvoll. Der Thronfolger führte Preußen in den exklusiven Kreis der Großmächte, wobei er den Beinamen „der Große“ erlangte. Viele Küstriner waren ebenfalls stolz auf den Beinahmen „Soldatenstadt“ und wiesen darauf hin, dass ausgerechnet in Küstrin die Einheit geschaffen wurde, die der regulären brandenburgischen Armee den Anfang geben sollte. In Polen erfreut sich der Große Kurfürst des Rufes eines Verräters der Adelsrepublik und des ersten Architekten ihrer Teilung. Sein Urenkel Friedrich der Große war im Auge der Polen einfach ein Räuber. Preußen hingegen assoziierte man vor Allem mit den Versuchen einer Germanisierung, vor Allem mit dem verrückten und für die Katastrophen des 20. Jahrhunderts mitverantwortlichen Militarismus… Mit Sicherheit lässt sich keine Brücke bauen, die so radikal verschiedene Ansichten verbinden würde, jedoch erinnert unser Museum an diese und lässt uns fragen, was Kostrzyn an der Oder ist, oder eher was es in den Augen seiner heutigen Bewohner sein könnte.
Text und Bildbearbeitung: Marcin Wichrowski
Übersetzung: Julia Bork
Flugbilder von Piotr Chara (2008) und Marek Krukiel (2012) aus der Sammlung der Stadtverwaltung Kostrzyn nad Odrą.